Die Versorgung von Frühgeborenen mit einem Geburtsgewicht von weniger als 1250 Gramm gehört zu den Gebieten in der Medizin, bei denen die Behandlungsqualität in besonderem Maße von der Erfahrung der Ärzte und Pflegenden abhängt. Aber wie hoch sollte die Zahl der behandelten Fälle pro Jahr sein, damit die Babys optimal betreut sind? Laut einer aktuellen Studie in der „Zeitschrift für Geburtshilfe und Neonatologie“ (Georg Thieme Verlag, Stuttgart. 2020) sind die Behandlungsergebnisse besonders gut, wenn 50 bis 60 der kleinen Patienten pro Jahr in einer Einrichtung versorgt werden. Das liegt weit über den 14 Fällen, die der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) bisher für Perinatalzentren Level 1 vorschreibt. Der Empfehlung der Studienautoren folgend, müssten nach heutigem Stand rund 60 Prozent der Frühgeborenen umverteilt werden, weil viele der Einrichtungen eine solche Mindestmenge nicht erreichen. Da der G-BA derzeit über die Anhebung der bisherigen Fallzahl berät, liefert die jetzt vorgelegte Forschungsarbeit wichtige Berechnungsgrundlagen und Hinweise auf weitere notwendige Untersuchungen, um auch bei höheren Mindestmengen eine flächendeckende Versorgung zu gewährleisten.
„Der Zusammenhang zwischen Fallzahl und Versorgungsqualität von Neugeborenen mit einem niedrigen Geburtsgewicht ist mittlerweile gut belegt“, erklärt der Versorgungsforscher und Erstautor der Studie PD Dr. Günther Heller. „Die optimale Mindestmenge für die Versorgung dieser Kinder in Deutschland wurde bisher allerdings noch nicht untersucht“, so Heller weiter, der mit seiner Studie diese Lücke schließt. Um einen Schwellenwert für ein optimales Behandlungsergebnis zu errechnen, hat er die Daten von über 56 000 Frühgeborenen mit weniger als 1250 Gramm Geburtsgewicht untersucht, die zwischen 2010 und 2018 in deutschen Perinatalzentren Level 1 behandelt wurden. Anhand der Angaben berechnete er die jährliche Fallzahl pro Einrichtung sowie die Anzahl potentiell vermeidbarer Todesfälle. Letztere ergeben sich durch den Vergleich beobachteter und erwarteter Todesfälle oberhalb und unterhalb einer Mindestmenge. „Die höchste Anzahl potentiell vermeidbarer Todesfälle ergab sich bei einer Fallzahl von 50 bis 60 behandelter Kinder pro Jahr“, erklärt der Experte und weist auf mögliche Folgen in der Versorgung hin: „Würde eine Mindestmenge von 50 ohne Übergangsfristen angesetzt, dürfte nur noch ein Viertel der bisherigen Perinatalzentren die Versorgung von Frühgeborenen mit einem Gewicht von unter 1250 Gramm übernehmen. Das hieße, dass nach heutigem Stand rund 60 Prozent der Frühgeborenen umverteilt werden müssten“, so Heller.
Im Hinblick auf die laufenden Beratungen des G-BA rät der Sozialmediziner daher: „Es sind dringend Studien nötig, die sich mit der Umverteilung von Frühgeborenen aufgrund einer höheren Mindestmenge beschäftigen, um abschätzen zu können, ob eine flächendeckende regionale Versorgung dann noch gewährleistet werden könnte. Es stellt sich hier zudem die Frage, wie sich eine Anhebung der Mindestmenge auf die verbleibenden Zentren auswirkt. Des Weiteren sollte geprüft werden, von welchen Einrichtungen, die heute unterhalb der Mindestmenge liegen, erwartet werden kann, die Vorgaben in Zukunft zu erreichen.“
„Die Versorgungsqualität ist ein Thema, das in der ‚Zeitschrift für Geburtshilfe und Neonatologie‘ (ZGN), dem interdisziplinären Fachorgan der deutschsprachigen perinatalen Medizin, immer wieder aufgegriffen wird. Die meist anhand großer internationaler Referenzkollektiven besprochene ‚optimale Mindestmenge‘ von sehr kleinen Frühgeborenen gehört dabei sicherlich zu den kontroverseren Fragen. Die Autoren leisten hier einen wichtigen Beitrag, indem sie erstmals eine differenzierte statistische Analyse auf Basis der in deutschen Perinatalzentren üblichen – vergleichsweise geringeren – Fallzahlen vorlegen. Die Kriterien ihrer Auswertung und die Folgerungen aus ihren Berechnungen lassen wegen der potentiellen Auswirkungen auf die perinatalmedizinische Versorgungsstruktur eine lebhafte und spannende Diskussion erwarten“, erklärt der Editor-in-Chief der ZGN, Professor Dr. med. Dominique Singer.
Die Studie erscheint am Montag, den 19.10.20, in der aktuellen Ausgabe der „Zeitschrift für Geburtshilfe und Neonatologie“.